Die Disco

Dienstag, 10. Mai 2005

Die Disco

Endlich Freitag — ab in die Disco?

Ist die Disco eine Jugendszene? Man möchte es meinen, weil sich dort gewöhnlich nur junge Leute aufhalten. Das ist aber nur eine Seite. Die Disco ist nicht mehr jugendlich. Sie ist alt; über fünfzig Jahre alt.

Anfang der Sechzigerjahre war die Disco eine echte Jugendwelt. Da hatten Erwachsene keinen Zugang. Die Devise damals war: ”Trau keinem über dreißig!“ Damit waren natürlich besonders Eltern, Lehrer und andere Autoritätspersonen gemeint.

So um 1958 gab es in Europa einen Umbruch in der Unterhaltungsmusik, ausgehend vom amerikanischen Rhythm and Blues und nicht zuletzt durch Elvis Presley. Damals war die große Zeit der Rock’n Roll Bands. In Tanzlokalen für Jugendliche spielten solche Bands. Bald entdeckten aber diverse Lokalbetreiber, dass es wesentlich billiger ist, Schallplatten spielen zu lassen als Bands — und maßgebend für diese Lokale ist natürlich das Geschäft und nicht irgend eine kulturelle, künstlerische oder soziologische Überlegung. So wurden in Frankreich die erste Discos eingerichtet, wo auch der Begriff ”discothèque“ entstand. Diese Geschäftsidee verbreitete sich dann in Windeseile über das ganze Europa westlich des ”Eisernen Vorhangs“, der Grenze zum kommunistischen Ostblock.

In jenen Discos entstand eine eigene Welt abseits des Establishments der Erwachsenen jenseits der betreffenden Altersgrenze — so dachte es sich jedenfalls die Discojugend. Hier fanden die Jugendlichen scheinbar Akzeptanz, konnten sie sich darstellen und ihren Gegenakzent zu einer Welt setzen, zu der sie (noch) nicht gehörten, und zu einer anderen, zu der sie nicht mehr gehörten. Hier fanden sie Mitbürger des Niemandslandes, das sie bewohnten, und fühlten ihr Defizit an Gemeinschaft ausgeglichen. Hier konnten sie sich von einer Welt absetzen, zu der sie einerseits gehören wollten, in die sie anderseits aber noch nicht integriert waren. Deshalb opponierten sie gegen die Erwachsenenwelt. Sie merkten nicht, dass sie gerade dadurch vom wirtschaftlichen Establishments in eine kommerzielle Funktion manövriert worden sind. Der Discokonsum förderte genau das, wogegen die Opposition der Discojugend gerichtet war: das ”System“. Die Discojugend machte sich genau zu dem, was sie gerade nicht sein wollte: zur Beute rein kommerzieller Absichten des bestehenden Establishments und ihres Programms zur Eingliederung der Jugend in das Gesellschaftssystem.

Diese Selbsttäuschung der Discojugend erlebte sie aber zu wonnevoll und zu suchtartig, als dass sie darüber kritisch nachdenken oder gar aus diesem Widerspruch Konsequenzen ziehen mochte. Die klischeehaften Beurteilungen der von ihnen vorgefundenen Umwelt beantwortete sie in der Discowelt mit Antiklischees. Die einzelnen Jugendlichen passten sich einem Klischee an, das umgekehrt von der Erwachsenenwelt über sie gebildet worden war: widersetzlich, eigensinnig, überheblich, rüpelhaft. Der jugendliche Feldzug gegen die Wirklichkeit, der letztlich selbst Bestandteil dieser bekämpften Wirklichkeit war, erhielt im Laufe der Jahre nur noch neue Dimensionen der Illusion und Entfremdung. In den Sechzigerjahren war die Discowelt noch ein Bereich, den Erwachsene nicht kannten (mit Ausnahme der in dieser Branche tätigen Personen). Das hing mit dem Umbruch in der Unterhaltungsmusik zusammen, denn erst mit dem Rock’n Roll führte die U-Musik-Industrie eine spezifische Teenagermusik ein. Zuvor war U–Musik nicht so stark altersmäßig abgegrenzt, man denke dabei die lateinamerikanisch geprägten Schlager der Fünfzigerjahre, an Catherina Valente, Vico Torriani usw. Vor der Rock-Ära war europaische U-Musik zudem noch stark von Elementen der Operette und der Volksmusik beeinflusst. Auch der Jazz, der schon in den Dreißigern aufgeblüht war, konnte nicht als Teenagermusik angesehen werden.

Wirtschaftlich gesehen waren Jugendliche vor 1955 in Europa unbedeutend, was mit den Folgen der beiden Weltkriege zusammenhing. Seitdem aber hat sich die Lage kontinuierlich geändert, und im ausgehenden 20. Jahrundert sind Teenager längst zu wichtigen Konsumenten programmiert worden. Damit dieses Geschäft aufrecht bleiben kann, müssen auch die Klischees aufrecht bleiben. Dazu ist aber verstärkte Illusionsbildung notwendig, denn die Zeiten, in denen Jugendliche eine Szene aufbauen konnten, die wie in den Sechzigerjahren der Erwachsenenwelt fremd war und sie beunruhigte, sind längst vorbei. Jetzt sind es nicht nur die Eltern, sondern zunehmend auch schon die Großeltern, die genau wissen, was und wie eine Disco ist, weil sie sich selber in ihrer Jugend in solchen Einrichtungen bewegten. Weder von der Ausstattung noch von der musikalischen Charakteristik her hat sich in diesen Jahrzehnten in den Discos etwas verändert. Eine Disco ist das, was sie von Anfang an gewesen ist.

Das Klischee, dass Erwachsene nichts von der Discoszene verstehen und sie eine spezifische Welt Jugendlicher sei, kann nur durch eine jugendliche Verstiegenheit in noch größere Illusionen beibehalten werden. Je stärker aber jemand in Illusionen verhaftet ist, desto stärker entfremdet er sich damit von sich selbst. Das bedeutet Persönlichkeitsverlust, psychische Nivellierung, Abnahme der Beziehungsfähigkeit, Verringerung der sozialen Integrationsfähigkeit, Anfälligkeit für Süchte, Begünstigung von Neurosen. So gestaltet sich der Idealtypus des isolierten Konsumenten, des entmenschlichten Verbrauchers, des psychomechanischen Bücklings einer seelenlosen und trügerischen Kommerzmaschinerie.

Im Jahr 1981 ist Verlag Quelle & Meyer eine Arbeit der Autoren Neißer, Mezger und Verdin erschienen, die Charakteristik und Auswirkungen von Diskotheken untersucht (Titel: Jugend in Trance? — Diskotheken in Deutschland). Verdin ist Moderator beim Süddeutschen Rundfunk und war unter die 10 beliebtesten DJs Deutschlands gewählt worden. An Kompetenz lassen die Autoren also nichts zu wünschen übrig. Kurz gefasst bekundet diese Studie, dass die Discos den Jugendlichen effiziente Unterstützung bieten, ihre Zukunft auf mehrfache Weise zu unterminieren und zu demolieren, von beruflichem Chancenverlust bis hin zu Siechtum und sich unverhältinsmäßig häufenden tödlichen Unfällen. — Dieses Buch sollte jeder lesen, der je mit der Thematik Disco zu tun hat.

Wie die Autoren feststellen, fördert die Disco–Illusionskultur gerade jene psychisch wahrgenommenen Defizite, die Jugendliche in die Atmosphäre der Diskothek treiben. So setzt sich unter psychedelischen wirkenden Lichteffekten und einfahrenden Schlägen rhythmisch überlastiger, in gehörsschädigender Lautstärke hämmernder Songs oder Redestücke eine Eigendynamik in Gang, mitgestaltet von der Fähigkeit des sogenannten Disc-Jockeys, die Gefühle in einer Weise aufzuschaukeln, dass die Discobesucher dem Eindruck verfallen, eben das gefunden zu haben, was ihnen ihrer Meinung nach abgegangen ist. Dadurch vergrößert sich nur noch die Kluft zu der als öde empfundenen Alltagswirklichkeit, und der Drang nach der Disco verstärkt sich entsprechend. Damit ist der kommerziell verwertbare, die Zielpersonen als Konsumenten konditionierende Kreislauf angeworfen, ein Kreislauf, der erst durch den Übergang in eine andere kommerzielle Zielgruppe seinen Schwung verliert und das so für weitere wirtschaftliche Manipulierbarkeit vorbereitete Individuum in die systemkonforme, durch einsuggerierte Psychomechanismen gesteuerte Konsumentenschaft eingliedert.

Was hier vorrangig zu kritisieren ist, das ist die beklagenswerte Tatsache, dass der Mensch auf ein Wirtschaftsobjekt reduziert wird und seine Bedürfnisse in rein eigennütziger, materialistischer Weise gewinnorientiert ausgebeutet werden, ohne sie wesensgerecht zu befriedigen. Es ist ein Betrug an der Seele des Menschen, eine Negierung seines Wesens, eine Abwertung und schamlose Vermassung seiner Persönlichkeit. Es ist ein gewissenloser Handel mit Menschen und ihren Sehnsüchten, Bestandteil einer systemeigenen kontinuierlichen Preisgabe von ethischen Werten, die bekanntermaßen stets als unverzichtbar für menschliche Gemeinschaft gegolten haben und stets gelten werden. Der Mensch ist mehr als nur ein Wirtschaftsobjekt oder ein anderes Nur. Jede Ideologie, die den Menschen auf ein Nur reduziert — ob der marxistische Materialismus, der Wirtschaftsliberalismus oder was es sonst sein mag — beraubt den Menschen seiner Freiheit und seiner Würde. Das Tragische dabei ist, dass die Opfer das oft lange Zeit oder gar während ihres ganzen irdischen Daseins gar nicht merken.

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